Garage War

Die UK-Garage-Welt ist in der Mitte gespalten. Die 'Young Guns' möchten eine neue Art von Musik produzieren, aber die Enddreißger, die die Szene einst ins Leben riefen, werfen ihnen vor, "Piss-take records" zu machen. Dom Phillips berichtet:

(Anm.d.Red.: Der Original-Artikel erschien am Freitag, den 08.12.2000 in der englischen Tageszeitung "The Guardian" und stammt von Dom Phillips. Ins Deutsche übersetzt von Stefan Tschierske)

UK-Garage, die innovativste britische Dance-Music seit einer Dekade, durchlebt eine unwahrscheinliche Revolte. In der roten Ecke finden wir die selbsternannten "alten Wächter" aus Original-UK Garage-DJs - nunmehr größtenteils in den Dreißigern. Sie weigern sich, die neuen energischen Tracks zu spielen, die die traditionellen souligen Elemente im UK-Garage durch Geräusche ersetzen, die früher eher bei Hardcore-Raves zu finden waren.
In der blauen Ecke stehen die oft noch jugendlichen Produzenten dieses neuen Stils, die wütend sind, daß ihre Platten nicht aufgelegt werden. "Wir übernehmen deren Plätze," sagt der 18jährige Alex Rivers, eine Hälfte des Garage-Duos Oxide & Neutrino, " es ist ein Generations-Konflikt". 
"Es gibt derzeit diesen Nu Kids gegen Old Boys-Streit" bestätigt Spoony (30) von Radio-Ones spezialisiertem Garage-Trio, dem Dreem Teem.DJ Spoony
Am letzten Sonntag morgen, in der Radio-1-Show des Dreem Teems, interviewte Spoony Lisa Maffia, Romeo und Mega Man, die alle der Süd-Londoner-Posse "So Solid-Crew" angehören. "Irgendeinen Tipp für in die Jahre gekommene Rocker wie meinesgleichen?" fragte sie Spoony sarkastisch. "Wie können wir weiterhin ausgehen?"
"Gib der heutigen Jugend eine Chance, den Durchbruch zu schaffen! Du warst lang genug an der Spitze und jetzt ist unsere Zeit gekommen!" antwortete Romeo.
"Meinst Du also, daß wir zurücktreten sollten?" hakte Spoony nach.
"Zumindest einen Schritt zur Seite treten!" antwortete Romeo und Mega-Man fügte noch hinzu: "Such nach neuen Talenten, die Deinen Namen hochhalten, wenn Du selbst zu müde bist, den DJ zu spielen."
Trotz der nun im Anschluß folgenden ironischen Unterstützung des Dreem-Teems  - sie gewährten zwei Oxide & Neutrino-Produktionen in voller Länge Radiozeit - war die ernste Anspannung im Studio für jeden Hörer registrierbar.

Die Probleme begannen im April, als Oxide & Neutrino - die Mitglieder der So Solid-Crew sind - die No. 1 der Charts wurden. Sie verkauften 250.000 Stück von "(Casualty) Bound 4 Da Reload", einem geräuschvollen Hit, der um ein Sample aus der Krankenhaus-Serie 'Casuality' und Neutrinos MCing aufgebaut war. Wenig später erreichte eine spaßig gemeinte Party-Platte namens "I don't smoke" von DJ Dee Kline die Top 20. Die Elite der UK-Garage-Szene, das Dreem-Teem und andere ältere DJs von hoher Reputation wie Norris 'da Boss' Windross, weigerten sich, die Platte zu spielen. Andere Records in diesem Stil folgten, und die Musik-Magazine betitelten den neuen Sub-Stil als "Breakbeat Garage".
"Ich mag wenige dieser Tracks" gestand Spoony, "ich mag Musik mit mehr Soul und Groove".

Verblüffend für eine Musikrichtung, die den heutigen urbanen Underground definiert, ist, daß es ein offizielles UK-Garage-Komitee gibt! Es wurde 1999 gegründet, um die Einigkeit des Genres zu pflegen, aber Anfang dieses Jahres fand sich das Komitee in einer hitzigen Debatte wieder, worum es eben um Breakbeat-Garage ging. Das Komitee traf sich in Bill Bentleys Weinbar in der Innenstadt von London - von den 'Young Guns' der Garage-Szene war niemand eingeladen! Kommentare dazu gab es reichlich in Form durchgeschalteter, empörter Telefonanrufe bei zahlreichen Pirate-Radio-Stations des Landes. Die Frontlinien formierten sich.

DJ Dee Kline (der 22jährige Nick Annand aus Wimbledon) baute seinen Hit um ein spaßiges Sprachsample, in dem eine Stimme kreischt "I don't smoke da reefer!". Windross erklärte dazu: "Das ist der größte Müll, den ich je gehört habe. Er (Dee Kline) bezeichnet es als Garage-Record, für mich aber ist eine Piss-take-Record!" Er lehnte es daraufhin sogar ab, sich zusammen mit Dee Kline für das Face-Magazin fotografieren zu lassen.
"Es war etwas ganz neuartiges!" konterte Dee Kline. "Außerdem habe ich damit eine Menge Kohle verdient!"

Oxide & NeutrinoOxide & Neutrino promoten derzeit ihre Christmas-Single; einen rauhen, kantigen Song namens "No Good 4 me", der näher am frühen Hardcore-Sound von The Prodigy (die auch gesampelt wurden) als am herkömmlichen Garage ist. Er erreichte auf Anhieb die Top 10. Während einer Unterrichtspause erklärt Neutrino, der 18jährige Mark Oseitutu, seine Ansicht des Splits in der Garage-Szene: "Ich denke, es ist, weil wir erst 18 sind und die Fans sind zumeist auch jung, während diese Typen alle zwischen 30 und 40 sind. Wir verdrängen sie und sie verlieren ihre Jobs. Sie verlieren ihr Einkommen. Das ist es, wovor sie in Wirklichkeit Angst haben!"

Während die Musik näher an Rave rückt, gibt es Echos eines vergleichbaren Sturms, der einst Drum'n'Bass spaltete - eine weitere urbane britische Musikform mit naher Verwandtschaft zu Garage, die sich in den frühen Neunzigern aus der Rave-Szene entwickelte und u.a. den Star-Producer Goldie hervorbrachte. Auch damals wurde ein Komitee gegründet, das den MC General Levy quasi auf die "Schwarze Liste" setzte, weil er Party-Records produzierte, die vielen in der Szene zu billig und rufschädigend für das ganze Genre erschienen. DJ Rap - eine führende Drum'n'Bass-Produzentin - erinnert sich an eine Komiteesitzung, auf der sie mitgeteilt bekam, daß sie entweder nie wieder General Levy auflegen sollte, oder andernfalls in Zukunft auf überhaupt keinem Event mehr spielen würde. Sie verweigerte die Zusage, und erhielt darauf mehrere anonyme Drohanrufe. "Ich habe daraufhin den Kontakt zu jedermann in der Szene abgebrochen" resümiert sie.

Dave Piccioni, Inhaber des "Black Market" Record-Shops in Soho - einem Mekka, sowohl für Drum'n'Bass, wie für Garage - erinnert sich an einen Besuch von Goldie, der ihn nachdringlich ersuchte, keine General Levy-Platten mehr zu verkaufen.
Piccioni kann sich noch gut an die Reihen chromblitzender BMWs und Mercedes' erinnern, die manchmal vor seiner Tür standen. Er sagte ihnen, er würde verkaufen, was er wolle - es sei denn, sie würden in Zukunft seine Miete bezahlen...

Das Norris 'da Boss' Windross (mit Shola Ama) Garage-Komitee ist weniger militant. Sein Hauptquartier ist in einem Nord-Londoner Geschäftshaus - im Büro und Studio, das von Norris 'da Boss' Windross betrieben wird. Die Wände sind gepflastert mit goldenen Schallplatten für seine berühmte Schwester, die Soul II Soul-Sängerin Rose Windross. Während von ihr Fotos aufgenommen werden, scherzen die Komitee-Mitglieder Windross, MC Creed und DJ Jason Kaye über das Wetter. Für eine Gruppe, die die abtrünnige Jugendfraktion des UK-Garages so provoziert hat, sind sie bemerkenswert gelassen.

Gegründet im Herbst 1999, ist das Komitee dafür zuständig, z.B. mit Radiostationen und Magazinen über Playlists zu verhandeln (damals wurde Garage noch nicht die Aufmerksamkeit entgegengebracht, die ihm heute zuteil wird). "Ein Komitee zu bilden, ist eine durch und durch britische Tradition, nehme ich an" mutmaßt MC Creed. "Britisch wohlgemerkt - nicht schwarz, nicht weiß! Dies ist die einzige Musik auf der ganzen Welt, in der wir am besten sind." Sie verweisen auf eine Reihe von Beschlüssen im Mai und Juni, in der man Spoony zum Sprecher und Windross zum Vorsitzenden des Garage-Komitees wählte. Sie wollten ihre eigene Chart und ihr eigenes Magazin. Sogar eine eigene UK-Garage-Award-Zeremonie wurde ins Leben gerufen. MC Creed erklärt, daß sie weniger ein Problem mit den Persönlichkeiten hinter "Breakbeat Garage" haben, als vielmehr mit der Musik selbst. "Wenn die alten Wächter abtreten, wird die meiste Musik so sein - und dann ist UK-Garage tot!"
Früheres UK-Garage bestand aus Kernelementen," fügt Norris hinzu, "einem großen Anteil Soulfulness und - wichtiger als alles andere - einem ausgeprägten Groove!"
Er ist 37, Creed ist 34 - gibt es wirklich ein Generationsgefälle? "Ich habe eine 17jährige Tochter, und gehe mit ihr aus, als wäre sie eine Freundin!" kontert Norris. "Meiner Ansicht nach, bin ich kein abgefrackter Geezer, der sich langsam zum alten Eisen legen sollte."

Sie mussten aufhören, Records mit dem Bannstrahl zu belegen. Sie hatten keine Wahl. Huckleberry von Uptown Records war auf dem Meeting. "Jeder im Raum wußte, wenn sie Stuff spielen wollten, dann würden sie ihn auch spielen." erinnert er sich. Es gab eine Debatte darüber, ob 'darkere' Records auch rauhere Elemente zu den Garage-Clubnights locken würden. Einige argumentierten, daß auch Drum'n'Bass daran scheiterte, daß seine musikalische Linie immer mehr zugunsten einer aggressiven verloren ging.
"Ich stand auf" sagte Huckleberry, "und bemerkte noch: Ärger gibt es nicht durch die Musik - nur durch die Gesellschaft!"

Jeder erinnert an die immens wichtige Credibility im UK-Garage. "Die Kids kaufen Credibility!" sagt Picconi. "Sie wollen sich mit cooler Musik asoziieren, nicht mit Massenware. Sie wollen Trendsetter sein." Der Disput verlagert sich darauf, was 'Credibility' im UK-Garage ausmacht. Für das Garage-Komitee definiert sie sich ganz klar dadurch, den Original-Sound aufrecht zu erhalten, der in letzter Zeit so oft pervertiert wurde. "Wir haben kein Problem mit Leuten, die Garage wie Oxide & Neutrino machen" stellt MC Creed klar, "solange es andere Leute gibt, die den wahren Stuff rausbringen, um das auszugleichen." Aber der vorherrschende Garage-Style, '2-Step' genannt, der sich durch quietschvergnügte Vocals und trickreiche Beats auszeichnet, ist zum Chart-Futter geworden, der Major-Artists wie Whitney Houston sampelt und Mainstream-Sängerinnen wie Gabrielle einen Underground-Anstrich verpasst.

Bereits heute werden 23% aller Garage-Singles nicht in kleinen Record-Shops, sondern durch die V-Shop-Kette, früher bekannt als "Our price", verkauft. Die Leute, die Breakbeat-Platten von Oxide & Neutrino, Dee Kline und weiteren Trittbrettfahrern kaufen, sind 16 bis 18 - zu jung, um sich an die fünf Entwicklungsjahre von UK-Garage zu erinnern. Am Ende werden sie entscheiden. "Du kannst den schwarzen Peter nicht an der Markt weitergeben" wehrt Picconi ab. "Wenn einer von diesen Typen wie Norris krampfhaft an einer Musik festhält, die irgendwann aus der Mode kommt, dann ist er eben geliefert!"

Inzwischen sind Oxide & Neutrino nicht zu besänftigen. Sie bereiten schon den nächsten Schuss in Richtung der 'Alten Wächter' vor, eine Single namens "Up Middle Finger" mit bitterbösem MCing, das gegen namentlich ungenannt bleibende Feinde wettert. "Sie ist jenen gewidmet, die über uns herziehen" sagt Oxide.
Hart, gereizt und angepisst, ist sie kaum geeignet, bei zukünftigen Garage-Komitee-Sitzungen nicht zum Thema zu werden...


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Vibe #2/Januar 2001

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